Demokratie stärken: Einblicke und Erkenntnisse aus dem Thüringer Wahlkampf – Eine Woche im politischen Brennpunkt

Vielleicht ist es nicht das erste, an das man denkt, wenn man seine Sommerferien plant: eine intensive Woche Wahlkampf in Thüringen und die Organisation des größten Wahlkampfteams aus Baden-Württemberg. Aber dies war genau mein Schwerpunkt in diesem Sommer. Nach Thüringen – diesem kleinen Bundesland, in welchem mit etwas mehr als 2 Millionen Einwohnern deutlich weniger Menschen als in der Region Stuttgart (2,8 Mio.) leben.

Aus verschiedensten Gründen war es mir eine Herzensangelegenheit dort zu sein, gerade in dieses Bundesland zu reisen und unsere Grünen Freundinnen und Freunde zu unterstützen. Weil es ein sehr kleiner Landesverband ist, der mit gerade mal fünf Landtagsabgeordneten den Spagat zwischen Regierungsbeteiligung, Kommunikation mit der Bevölkerung und Aufrechterhaltung der eigenen Strukturen zu bewältigen hat.

Die Intention ging aber weit über die Unterstützung der eigenen Partei hinaus. Vielmehr ging es darum, die Demokratie zu unterstützen und Antworten zu finden. Antworten darauf, was die Menschen in diesem Bundesland bewegt, in solch hoher Zahl extremistische oder populistische Parteien zu wählen. Und wie es denn mit der Alltagskultur in diesem Bundesland aussieht. Schlussendlich auch, um Interesse und Gesprächsbereitschaft zu zeigen.

In den letzten zwei Jahrzehnten hat sich die Parteienlandschaft in Thüringen dramatisch verändert. Und wir sehen, spätestens nach der letzten Kommunal- und Europawahl, nur allzu deutlich die Erosion des Parteiensystems der Berliner Republik. Waren vor 20 Jahren noch mehrheitlich CDU, SPD und Linkspartei in den kommunalen Gremien Thüringens vertreten, ist der Anteil dieser Parteien bei der letzten Wahl unter 50 Prozent gesackt.

Die kommunale Ebene als erste Ebene des Staates verfügt damit über immer weniger kommunale Mandatsträgerinnen und Mandatsträger, die an demokratische Parteien gebunden sind und sowohl kommunikativ/inhaltlich als auch organisatorisch eine Brücken- oder Scharnierfunktion für ihre jeweilige Bundes- oder Landespartei ausfüllen können.

Zudem ist insbesondere Thüringen unter historischen und demokratietheoretischen Gesichtspunkten ein besonderes und vulnerables Bundesland, da es schon in der Weimarer Republik Vorreiter der Rechtsentwicklung in der deutschen Gesellschaft war. 1930 wurde Wilhelm Frick als erster Minister der NSDAP Teil einer Landesregierung. Bürgerlich-konservative Kräfte glaubten damals noch, die Nationalsozialisten einhegen zu können – und verhalfen ihnen zur Macht. Ein Aspekt, an den es meines Erachtens auch bei aktuellen Debatten immer wieder zu erinnern gilt.

Der vom Verfassungsschutz als gesichert rechtsextrem eingestufte Landesverband der AfD unter Bernd Höcke ist einer der Treiber für die Radikalisierung der gesamten Bundespartei. Und einer Verschiebung des gesamten landespolitischen Diskurses nach rechts.

Ebenfalls zur Instabilität der Thüringischen Parteienlandschaft hat die Gründung und das Agieren des BSW beigetragen. Das gleichzeitige Ansprechen des auf den ersten Blick gegensätzlichen Wählerpotenzials aus AfD und Linken war nur durch Populismus, Schüren von Wut, Betonung sozialer Ungleichheiten und das Vereinen unzufriedener Gruppierungen, beispielsweise von Coronaleugnern, möglich. Das BSW mit seinen geringen Mitgliederzahlen, seinen elitären Aufnahmekriterien und seinem fehlenden kommunalen Unterbau vermag es bislang zudem nicht, vor Ort Bindungskräfte zu entwickeln und so Stabilität zu geben.

Bezeichnend, dass wir bei unseren Wahlkampf-Aktivitäten vom Flyern übers Plakatieren, Haustürwahlkampf und Ständen in vielen Orten in Thüringen – von Erfurt nach Ilmenau, Weimar, dem Kyffhäuser Kreis oder Sömmerda und Umgebung – zwar viele AfD-Plakate gesehen haben, aber relativ wenig vom BSW, und wir sind gar keinen Ständen oder Wahlkämpfern dieser neuen Partei begegnet.

Die Reaktionen der Menschen auf uns als Wahlkämpfer*innen aus dem Westen waren weitaus besser, als ich es erwartet habe. Die kleinen Orte jenseits der Zentren waren zudem viel hübscher und infrastrukturell stärker als erwartet. Uns sind viele freundliche Menschen begegnet. Aber eben auch jene, die nicht freundlich waren. Jene, die für uns kaum mehr zu erreichen waren. Freundlichkeit ist nicht unbedingt ein Maßstab in der politischen Kommunikation. Erreichbarkeit aber schon.

Für uns als Grüne war dies das Hauptproblem. Für alle kommenden Wahlen müssen wir daraus lernen. Antwort geben, auf die Fragen, die die Menschen bewegen. Es mag uns enttäuschen, dass unsere Themen wie Erneuerbare Energien, Umweltschutz und Weiterentwicklung der Wirtschaft in Thüringen nicht richtig ziehen. Es sind meines Erachtens auch zentrale Zukunftsthemen. Die es auch zu benennen gilt, wenn sie gerade nicht im Fokus der Aufmerksamkeit sind. Aber – auch andere Themen müssen benannt und deutlich kommuniziert werden, zumal wir ja auch in Themengebieten wie der inneren Sicherheit sehr wohl über Fachkompetenz verfügen.

Die Wahrnehmungsdifferenz zwischen Ost und West, von der der Soziologe Steffen Mau spricht, waren für mich in Thüringen deutlich. Und ja – in den Medien und in unseren Köpfen herrscht vielleicht ein Bild von Ostdeutschland, in dem bestimmte Probleme besonders diesem Landstrich zugeschrieben werden. Das ostdeutsche Gefühl, zurückgesetzt zu sein, war für uns greifbar. Seien es die älteren Menschen, die von den Kindern erzählen, die „im Westen“ leben und arbeiten und nicht wiederkommen wollen. Seien es eben jene, die sich gezielt von der westdeutschen Gesellschaft abgrenzen wollen und in AfD und BSW ein Sprachrohr finden.

Diese wiederum greifen genau diesen Bezug auf die eigene, ostdeutsche Identität auf und vermischen ihn mit rechtsradikalen oder populistischen Elementen. Und stoßen damit in Thüringen auf fruchtbaren Boden: Vor allem die AfD wird soziologisch erwiesenermaßen vor allem von einer konfessionslosen Wählerschaft favorisiert. In Ostdeutschland und besonders Thüringen wurden in der Zeit der SED-Diktatur strategisch Religion und religiöse Institutionen erfolgreich bekämpft.
Man mag es mit der Religion halten, wie man mag – das religiöse Versprechen von Liebe, Glaube und Hoffnung sowie die Betonung von Selbstwirksamkeit haben deutliche Auswirkungen auf grundsätzliche Einstellungen zu Demokratie, Vielfalt und Zusammenhalt.

Hinzukommen die klassischen Konfliktlinien zwischen Stadt und Land, urbanen Zentren und der abgehängten Peripherie. Es ist schon eine besonders krasse Polarisierung, die mit unserem Ländle kaum vergleichbar ist. Die Thüringer Peripherie verzeichnet nicht nur eine wirtschaftliche, sondern auch eine gesellschaftliche Abwanderung. Das Gefühl des „Abgehängtseins“ ist damit ein völlig anderes als in den ländlichen Räumen Baden-Württembergs, in der auch noch in kleinen Albdörfern Hidden Champions Wohlstand sichern und einen Hauch Internationalität verbreiten.

Und nach der Wahl? Zukunft ungewiss

Ungewiss, welche Koalition es jetzt vermag, das Land zu führen und zu einen. Ungewiss, ob auf Bundesebene von allen demokratischen Parteien die richtigen Rückschlüsse für die anstehenden Wahlen in Brandenburg und im kommenden Jahr im Bund gezogen werden. Viele Aussagen am Wahlabend lassen nicht darauf schließen und machen die Elefantenrunden im Fernsehen für mich regelmäßig zum Auslöser von Bluthockdruck.

Auch wir Grüne stehen in Thüringen vor vielen Fragen – es geht darum, Fehler klug zu analysieren und mit noch weniger Ressourcen die Menschen in der Fläche zu erreichen. Ein schwieriges Unterfangen, vor allem nach der allzu verständlichen Frustration und Müdigkeit der ehrenamtlichen Wahlkämpferinnen und Wahlkämpfer. Der Hund beißt sich in den Schwanz: Wenig Mitglieder bedeuten wenig Ressourcen, wenig Aktivitäten und damit weniger Möglichkeiten, Interessierte anzusprechen, einzubinden und damit die Mitgliederzahlen zu steigern. Diesen Kreislauf zu durchbrechen, nun wo wir nicht mehr im Landtag sitzen, ist schwierig. Und mag wirklich nur mit massiver Hilfe und im Netzwerk aus dem Bundesverband und anderer Landesverbände gelingen.

Ich bin nach Thüringen gefahren, um Antworten zu gewinnen. Vielleicht bin ich mit mehr Fragen zurückgekommen. Vielleicht sind es aber genau die richtigen Fragen, um mehr zu verstehen.