Günter Bächle: Verachtet mir die Kanaldeckel nicht – Erlebnisse in und Erfahrungen aus 45 Jahren Gemeinderatsarbeit

Wie lässt sich das aushalten? So mag sich mancher fragen. 45 Jahre im Gemeinderat und dann in dem als besonders politisch, um nicht zu sagen, zeitweise stark parteipolitisch geprägten von Mühlacker. Ein Kollege von den Freien Wählern trat zeitgleich im September 1975 mit mir an, jetzt sind wir die Dienstältesten, jedoch – er 70, ich 69 – bei weitem nicht die an Lebensjahren ältesten. Wir siezen uns noch wie seit der Zeit, als er bei den Jusos und ich bei der Jungen Union agierten. Inzwischen sitzt neben mir in der Fraktion mein ältester Sohn Johannes (21). Hat Freude am Kommunalen vererbt bekommen. Muss also etwas Magisches dran sein an dem Ehrenamt. Um auf die Auftakt-Frage zurückzukommen: Nicht nur aushalten lässt es sich, auch durchhalten, weil die Gemeindepolitik einen festhält, elektrisiert. Jeden Tag sieht der Bürgervertreter, was er gut und was er – kommt auch vor – schlecht gemacht hat. Die direkte Konfrontation mit den Ergebnissen seiner Beschlüsse – das fehlt jenen im Bundes-, aber manchmal auch im Landtag.  Das schafft Bodenhaftung.

Und trotzdem: Obwohl einen manchmal das Gefühl beschleicht, alles schon erlebt zu haben, selbst nach viereinhalb Jahrzehnten bleiben Dinge nicht aus, die man nie für möglich gehalten hätte. So wie jetzt, der freie Fall der Steuereinnahmen, der Stillstand der Rathausarbeit, die der Corona-Krise völlig unterzuordnen ist. Wochenlang keine Sitzungen, Treffen der Fraktion als Videokonferenz. Klappt immerhin auf Anhieb. Plötzlich wird manches, was einem groß und wichtig erschien, nichtig und klein, um eine Anleihe bei Liedermacher Reinhard Mey zu nehmen. Aber es geht weiter, auch wieder aufwärts, wir bleiben nicht im Jammertal sitzen. Eine der Erkenntnisse, die sich in 45 Jahren ansammeln: Pessimisten machen sich und anderen das Leben schwer, legen jede Ratsarbeit beinahe lahm – ein Pessimist kommt aus dem Absingen von Klageliedern nicht heraus und verpasst so den Aufstieg auf neue Höhen. Verdirbt zudem jede Diskussion. Lieber das Glas halb voll statt halb leer sehen. Auch das ist eine meiner Erfahrungen. 

Vor der Trauung noch beim Wasserschaden

Bächle’sche Spezialität: Die Rolle des Kümmerers. Menschen wissen, dass sie jederzeit mit ihren Anliegen kommen können, ich mich derer annehme und notfalls mit der Verwaltung einen Streit ausfechte, um gerade diesem Bürger zu helfen. Erfolgsgarantie kann ich keine geben, aber Einsatzgarantie. Unser jetziger OB – der vierte, den ich als Stadtrat erlebe – ließ die Zahl meiner Anfragen auf die vergangenen zehn Jahre hochrechnen. 700 sollen es gewesen sein. Mal 4,5?  „Und mein Anliegen war auch unter den 700“, frohlockte ein Bürger, als er die Zahl in der Zeitung las, in einer Mail. Meiner Frau fehlte allerdings jegliches Verständnis, dass ich im August 1999 am Tag unserer kirchlichen Trauung morgens noch einen Wasserschaden bei einer Familie anschaute. Seit ich meinen Blog betreibe, etwa 15 Jahre lang, besteht eine weitere Kontaktmöglichkeit – der elektronische Weg wird immer häufiger begangen.

Wie sieht das ein Ex-Ratsmitglied? In meinem Archiv im Keller, dem es dort längst zu eng ist, steckt in einem der Ordner ein höchst lesenswerter Essay, der zum Thema passt: “Der Stuttgarter Stadtrat Michael Kienzle über die Tücken der ehrenamtlichen Kommunalpolitik”. Kienzle ist Grüner und damit unverdächtig. Er hat dem Rathaus längst den Rücken gekehrt. Undank sei des Stadtrats Lohn, steht im ersten Satz des am 20. Februar 2006 in der Stuttgarter Zeitung auf Seite drei erschienenen Textes. So hart würde ich es nicht formulieren. Ein Plädoyer für kommunale Graswurzel-Demokratie – trotz dieses Satzes: “In der Klasse der Politiker sitzen die Kommunalpolitiker ganz hinten.” Sie seien rechtlich merkwürdige Zwitter aus Verwaltungsmitgliedern und Mandatsträgern, ehrenamtliche Freizeitpolitiker mit Aufwandsentschädigung, nicht mit Diäten, Übergangsgeldern und Altersversorgung.  Da fällt mir eine Karikatur ein, die in den sechziger Jahren in der Zeitschrift der Bundes-Jungen-Union („Entscheidung“) erschien. Wer auf dem Trampolin mit viel Schwung hüpfte, den trug es ganz nach oben in den Bundestag, zumindest noch in den Landtag, die anderen aber purzelten gleich neben raus und gingen zu Boden, der für Kommunalpolitik stand. Welch ein Irrtum!  Die Kommunen sind nicht die unterste Ebene des Staates, sondern gleichwertig mit den anderen beiden und somit auf Augenhöhe. Das müssen Gemeinderäte aber selbstbewusst leben. Auch vor Ort. Tun sie’s?

OB begrüßt, wenn er es nicht gerade vergisst

Dazu nochmals ein Blick in den Kienzle-Text, der es auf den Punkt bringt. “Und wenn der Stadtrat bei Gelegenheit an schönen Bäumen oder alten Häusern vorbeigeht, für die er sich eingesetzt hat, oder wenn wieder einmal ein Beamter eine öffentliche Einrichtung feierlich einweiht, für die der Stadtrat, aber nicht der Beamte über Jahre gekämpft hat, dann freut er sich im Stillen. Auch wenn am Ende wieder vergessen wird, ihn zu erwähnen.” Der Oberbürgermeister begrüße ihn in seiner Ansprache bei offiziellen Terminen auch ausdrücklich, wenn er es nicht gerade vergesse. In den öffentlichen Sitzungen sei der Stadtrat als mitreißender Redner gefordert, auch wenn ihm die Kollegen dort eigentlich nie zuhörten und schon gar nicht umzustimmen seien. Wenn der anwesende Lokaljournalist gut gelaunt sei, zitiere er in seinem Bericht am nächsten Tag einen Satz, den er so gesagt haben könnte.  

Was Literaturwissenschaftler Kienzle mit feiner Ironie und Humor niederschrieb, ohne sich zu beklagen, könnte auch im Lehrbuch für angehende Kommunalpolitiker stehen. Wenn sich die Verwaltung einig sei, lasse sie den demokratischen Eifer des Stadtrats lässig ins Leere laufen. Und wenn es Kritik aus der Bürgerschaft hagelt, verstecke sich die Verwaltung “ironisch hinter den unerforschlichen Beschlüssen des Hauptorgans Gemeinderat, dem sie sich ja leider unterordnen müssten.” Selbiges erleben manchmal auch noch die Dienstältesten, selbst wenn die Verwaltung vorsichtiger geworden ist – und bei ersten Spatenstichen auch denen Spaten in die Hand drückt, die das Geld bewilligten und das Projekt dadurch erst möglich machten. Massen-Stechen, frotzeln dann die Leute, wenn sie das Foto im Lokalblatt abgedruckt sehen.

„Man muss die Menschen lieben!“

Kienzles Fazit ist auch meines: Kommunalpolitik ist beglückend menschennah, transparent und direkt. “Die Politiker sind dort dicht am Wähler, die Wähler dicht an der Politik.” Unterstützend dazu ein Satz, der dem früheren Vaihinger Oberbürgermeister Heinz Kälberer zugeschrieben wird: „Man muss die Menschen lieben!“ Als Voraussetzung für beglückende Arbeit im Rathaus.

Stuttgart, Leutenbach, Remseck, Erligheim, Mühlacker. Die Größe der Kommune ist nicht entscheidend, wenn man sich um jeden Kanaldeckel kümmert. Das ist Pflichtprogramm. Klappert der Schachtdeckel nachts, wenn Autos darüber rauschen, ist es für denjenigen, dem der Schlaf gestört wird, das größte Problem. Der Kanaldeckel ist ihm – zurecht! – näher als der Bau einer Kulturhalle. Deshalb ist das Ratsmitglied gefordert, sich stark um die angeblich kleinen Dinge zu kümmern, die doch zu großen werden können. Dahinter verblassen die ganzen wichtigen Haushaltsdebatten. 

Parforceritt durch den kommunalpolitischen Schrebergarten

Apropos Etatberatungen: Zu diesen verirrt sich kaum ein Bürger als Zuhörer, es sei denn der Verein, dem er/sie vorsitzt, will einen Zuschuss oder die Abteilung Lomersheim der Freiwilligen Feuerwehr sieht Chancen auf Finanzierung eines neuen Gerätehauses. Aber das ist das ganze Jahr über so. Meist nur der Egoismus sorgt für besetzte Zuschauerränge. Völlig überschätzt, sind die jährlichen Haushaltsreden. Seit 1984 Fraktionsvorsitzender, seit 1984 halte ich sie, jedesmal beim Schreiben frage ich mich: Lohnt der Aufwand, zumal sich der von der Verwaltung vorgelegte Entwurf nur ganz marginal verändern lässt? Weshalb ein Parforceritt durch den kommunalpolitischen Schrebergarten? Um das Exzerpt aus fünf Din-A-4-Seiten dann in 20 bis 30 Zeilen in der örtlichen Zeitung zu lesen?  Vielleicht auch nur auf der sublokalen Wechselseite, weil das Gesagte schon in der Nachbarkommune maximal nur noch den Schultes interessiere. Als Lokalredakteur, der ich 46 Jahre bei der LKZ war, hatte ich immer Zweifel, ob das auch von vielen gelesen wird. Legen wir es unter Pflichtübung und den Text als Bestandteil des Ratsprotokolls ab.

Streifen wir noch die Kleiderordnung. Gemeinderäte sind vom Bürger gewählt, wie Land- und Bundestagsabgeordnete auch. Doch die MdLs und MdBs haben in den Veranstaltungen einen Platz in der ersten Reihe, lassen sich namentlich willkommen heißen. Die im gesamten Saal verstreut sitzenden Kommunalvertreter werden nur pauschal willkommen geheißen (nach dem letztgenannten Banken- und Verbandsvertreter), und selbst, wenn nur zwei anwesend sind, die Zahl also überschaubar ist, bleibt’s (meist) namenlos. Und in der Lokalpresse steht dann etwas von “lokaler Prominenz”, und die ist bekanntlich anonym. Aber wenn sich die Stadträte von Bürgerinitiativen in den Senkel stellen lassen müssen, nennt man sie beim Namen. Indessen: Wer sich auf die Kommunalpolitik einlässt, weiß das spätestens nach den ersten Monaten. “Als wandelndes Konzentrat des Bürgerwillens” (Kienzle). Das sind ihm viele Stunden im Ehrenamt neben dem Brotberuf wert. In der Gewissheit, dass sich keine Stimme, vor allem nicht die der Verwaltung, zu seiner Verteidigung erhebt, wenn er attackiert wird – ein Erlebnis, das in Stuttgart und Mühlacker gleichermaßen gemacht werden kann. 

Mein täglich Brot in Redaktion und Rathaus

Aber damit kann leben, wer Kommunalpolitik als Umsetzung der örtlichen Selbstverwaltung versteht. Selbstverwaltung gibt’s nur, wenn sich Menschen ihrer annehmen. Das macht auch Freude. Sage ich und nicht Kienzle. Wobei ich ein seltenes Exemplar war: Nicht nur als Stadtrat, sondern 47 Jahre als Lokalredakteur, das schafft Synergien. Kommunalpolitik, „mein täglich Brot“. Es sei nicht verschwiegen: Manchmal bot sie nicht nur Schwarzbrot, sondern auch Kuchen.